Nachlass Gurlitt, Mary und Wilhelm
Signatur
NL-GUR
Umfang
01,70 lfd. Meter
Gesamtlaufzeit
1857-1999
Inhalt
Unterlagen zur Familiengeschichte, Korrespondenz, darunter rund 1000 an Mary Gurlitt gerichtete Briefe. Auch Mary Gurlitts eigenhändige Hefte und Aufzeichnungen. Der Nachlaß erlaubt wichtige Einblicke in die Erziehung und Ausbildung eines jungen Mädchens sowie in das gesellschaftliche und kulturelle Leben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Hauptserien public
| NL-GUR Lebensdokumente
| NL-GUR Reisen
| NL-GUR Korrespondenz
Geschichte
Mary Gurlitt wurde 1857 als zweites Kind des Engländers James Labatt (1830-1862) und seiner Frau Josephine geb. von Gaupp-Berghausen (1837-1864) geboren. Nach dem Tod des Vaters, der als Wechsel-Makler in Wien tätig war, zog die Mutter mit fünf kleinen Kindern nach Österreichisch-Schlesien, wo sie bald darauf auch starb. Die Kinder fanden bei Verwandten und Bekannten Aufnahme, wurden aber, um den geschwisterlichen Zusammenhalt zu wahren, zum regelmäßigen Briefeschreiben angehalten. Die Briefe der Geschwister an Mary sind ab 1877 erhalten und zeigen lebendige Bilder enger Verbindung trotz räumlicher Trennung.

Mary kam zunächst nach Wien in die Familie des Germanistik-Professors Karl Julius Schröer (1825-1900), der mit Georg Karl Frommann (1814-1887), dem Bibliothekar des Germanischen Nationalmuseums, in Briefkontakt stand und seit 1859 für das Fach Deutsche Mundarten und deutsches Volkstum in Ungarn dem Gelehrtenausschuß des GNM angehörte. ln seine Familie wurde Mary wie eine eigene Tochter integriert: Frau Schröer ließ sich als Mutter anreden, die leiblichen Töchter lda und Lili unterschrieben ihre Briefe, in denen sie jede Trennung von Mary bedauerten, stets als Schwestern. Schon in dieser Wiener Zeit bestanden gesellschaftliche Kontakte zur Familie des Altgrafen Hugo von Salm-Reifferscheidt-Raitz und seiner Gemahlin Elisabeth, einer geborenen Prinzessin Liechtenstein, die zeitweise in ihrem Wiener Stadtpalais, zeitweise auf ihrem böhmischen Gut Blansko lebte. Vor allem die Töchter, etwa in Marys Alter, waren ihre engen Freundinnen.

Spätestens 1871-1872 siedelte Mary ganz zur Familie Salm über, wo sie zusammen mit den insgesamt fünf Kindern den Unterricht des seit 1870 dort wirkenden Hauslehrers Wilhelm Gurlitt (1844-1905) genoß. Ihre Schulhefte aus den Jahren 1871-1875 zu den Fächern Geschichte, Kunstgeschichte, Geographie und Literatur zeugen von weiter Streuung des Stoffes und gründlicher Unterweisung.


Von 1875-1879 sind Marys sorgfältig geführte Protokolle des literarisch geprägten Zirkels »Montagskreis« erhalten. Dort versammelten sich Erwachsene und die »Montagskinder«, d.h. junge Mädchen von ca. 16-20 Jahren unter der Leitung eines nicht mehr zu identifizierenden »Vorsitzenden«, um bedeutende Werke der Weltliteratur vom 10. bis 19. Jahrhundert kennenzulernen. So wurden neben Nibelungen-und Hildebrandslied, Hans Sachs und Tacitus-Übersetzungen Gedichte von Goethe, Schiller und heute nicht mehr gelesene Autoren des 19. Jahrhunderts rezitiert, daneben auch Theaterstücke, wie Der Widerspenstigen Zähmung oder Schillers Braut von Messina, in verteilten Rollen gelesen. Theaterbesuche und eigene Theateraufführungen spielten überhaupt in den Briefen der Freundinnen neben Lesen und Malunterricht eine große Rolle. Das gesellschaftliche Leben mit Einladungen, Bällen und Kostümfesten kam daneben nicht zu kurz. ln dieser Zeit machte Eduard Leisehing (1858-1938), der spätere Direktor des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie in Wien und eifrige Förderer des Wiener Volksbildungswesens, Mary den Hof, wie erhaltene Briefabschriften zeigen - allerdings ohne größeren Erfolg.

1884 verlobte sich Mary Labatt mit Wilhelm Gurlitt, nachdem dieser in Graz eine Professur für Archäologie erhalten hatte. Fast täglich schrieb die junge Braut einen Brief, um den Verlobten weiter an ihrem Leben teilhaben zu lassen. 1885 heirateten sie. Zwischen 1889 und 1894 kamen drei Töchter zur Weit, deren Gedeihen und Erziehung nun die Briefthemen beherrschen. Auch Fragen der Haushaltsführung und Dienstbotenprobleme werden eingehend behandelt. Daneben kommen verstärkt die Verbindungen zur Familie Gurlitt zur Geltung. Nicht nur der Vater, der Maler Louis Gurlitt (1812-1897), und seine Frau, eine Schwester der Schriftstellerin Fanny Lewald (1811-1889), sondern auch die Brüder Hans (ein Makler), Otto (Bankier, 1848-1905), Cornelius (Kunsthistoriker, 1850-1938), Fritz (Kunsthändler, 1854-1893) und die Zwillinge Ludwig und Eise (Lehrer, *1855) waren eifrige Briefschreiber.

Einige Briefe aus dem Umkreis der Universität Graz zeigen, daß die Familie guten Kontakt nicht nur im engsten Kollegenkreis, sondern auch mit damals bedeutenden Architekten, Musikern, Historikern und Schriftstellern wie Wilhelm von Flattich, Mathilde Kralik von Meyrswalden und ihrem Bruder Richard, Joseph Wilhelm Kubitschek und Emil Ertl pflegte. So spiegelt der schriftliche Nachlaß von Mary Gurlitt ein abwechslungsreiches und in gewisser Weise auch zeittypisches Leben wider.

(lrmtraud Frfr. von Andrian-Werburg)
Maßgebliche Findmittel
Verzeichnis in MS Word (22 S.) und Datenbank (290 Einheiten)
Nachlass Gurlitt, Mary und Wilhelm (NL-GUR)